Wenn Olga Betancourt nach Hause zurückkehren kann, wird sie als erstes einige Furchen in die Erde ziehen, ein paar Blumensamen ausstreuen und dann behutsam die feuchte Erde auf die Samen drücken. Sie wird die Blumen säen, die ihrer Mutter so gefallen haben. Seit 14 Jahren wartet Olga Betancourt auf diesen Moment.
Olga Betancourt ist eine von 7.452.519 Kolumbianern, die laut offiziellem Opferverzeichnis wegen des bewaffneten Konfliktes ihre Heimat verlassen mussten. Wie viele Flüchtlinge ging sie mit ihrer Familie nach Ciudad Bolívar, das Armenhaus im Süden der Hauptstadt Bogotá. Etwa 800.000 Menschen sollen hier leben. Keiner weiß die genaue Zahl. Knapp die Hälfte von ihnen sind Vertriebene.
Schon in den 50er Jahren kamen die ersten Vertriebenen nach Ciudad Bolívar. Sie besiedelten das Weideland und gründeten eine Gemeinde. Die meisten Neuankömmlinge flüchteten vor La Violencia, Kolumbiens blutigem Bürgerkrieg zwischen Republikanern und Konservativen, der das Land zerriss. Nach zehn Jahren Krieg war mehr als ein Fünftel der Bevölkerung vertrieben.
In den 70er und 80er Jahren kamen die nächsten Flüchtlinge nach Ciudad Bolívar. Kolumbien befand sich auf dem Höhepunkt des bewaffneten Konfliktes. Die Guerilla der FARC und ELN kämpften gegen die kolumbianische Armee, die von paramilitärischen Gruppen unterstützt wurde. Kolumbiens Drogenbosse schlugen sich jeweils auf die Seite, die ihnen ökonomisch vorteilhafter erschien.
Zwischen den Fronten: Die Bevölkerung. Mehrere Hunderttausend Menschen flüchteten nach Ciudad Bolívar. Das Armenviertel breitete sich auf die angrenzenden Hügel aus. Immer mehr Häuser und Hütten mit Wellblechdach entstanden in Gebieten, für die es nie einen Bebauungsplan gab. Ciudad Bolívar bietet Olga und ihrer Familie eine Unterkunft. Doch das Leben hier ist nicht einfach.
Es vergeht kein Tag, an dem sich Olga nicht nach den Orten ihrer Kindheit sehnt. Da ist die Finca der Betancourts, ein weißes Haus mit rotem Dach, auf einem großzügigen Grundstück. Das warme Klima erlaubt den Kaffeeanbau. Außerdem hat die Familie Maisfelder und Bananenstauden. Dieses Stück Land heißt El Castillo und liegt im Regierungsbezirk Meta, knapp vier Stunden von Bogotá entfernt liegt.
Olgas Vater Luis Felipe Betancourt, ein Bauer mit von der Sonne gegerbter Haut und dunklen Augen, gehörte zu den ersten, die in El Castillo siedelten. Mit Machete und Beil säuberte er die Parzelle und legte den Grundstein für die Kaffee-Finca. Zusammen mit seiner Frau María Leonilde Léon zog er sieben Kinder groß. Drei Jungen: Luis Albeiro, Alonso, Omar. Und vier Mädchen: Nenfer, Rosa María, Eunice und Olga, die Jüngste.
“Das schönste war die Arbeit mit der Familie. Meine Brüder haben hart gearbeitet, bei der Kaffeeernte oder dem Maismahlen. Auch wir Schwestern haben von frühmorgens bis spätabends gearbeitet. Sonntags durften wir dann im Fluss baden oder Fußballspielen”, sagt Olga.
Im Dezember, nach der Kaffeeernte, gingen die Betancourts zum Fluss. Das Flussbett verwandelte sich in ein Bankett, wo die Familie, die Freunde, die Nachbarn und die Saisonarbeiter zusammenkamen. Sie feierten Erntedank und Silvester mit einem riesigen Topf Sancocho, einem traditionellen Eintopf aus Huhn, Rindfleisch, Yuka, Kartoffeln und Kochbananen.
Politik spielt in Olgas Kindheit eine große Rolle. Ihr Vater und ihre Mutter sind Mitglieder in der Union Patriótica (UP), einer linksgerichteten Partei, die nach dem Friedensabkommen von 1985 zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-Rebellen entstand. Aus dem Stehgreif gewinnt die UP 14 Sitze im Kongress und landet mit Jaime Pardo Leal auf Platz drei der Präsidentschaftswahl.
Doch der Erfolg der UP währt nur kurz. Die Partei wird durch eine Welle von Attentaten erschüttert. Es gibt paramilitärische Gruppen, die gezielt Jagd auf UP-Mitglieder machen. Zwischen 1986 und 2002 werden 6.500 UP-Anhänger ermordet. Auch die Betancourts geraten ins Fadenkreuz. Olga arbeitet zu dieser Zeit im Rathaus von El Castillo. Sie kritisiert die Aktionen der Paramilitärs öffentlich. Dafür, dass sie den Bauern das Vieh wegnehmen. Und dafür, dass sie willkürlich Menschen verschleppen und foltern, im Wald, gleich neben der Finca der Betancourts.
In El Castillo ist die Verfolgung besonders stark. Die Paramilitärs betrachten den Ort als Rebellendorf. In großem Stil vertreiben sie die Bevölkerung und besetzten die Fincas. Zwischen 1998 und 2003 fliehen 4.863 von 6.800 Einwohnern.
Am 26. Januar 2003 ist die Situation für die Betancourts nicht mehr auszuhalten. Olga erinnert sich genau: „Ich war auf einer Party. Um drei Uhr morgens kam auf einmal einer meiner Brüder zu mir und sagte: Du bist auf der Liste!” Das bedeutet: Abhauen, so schnell wie möglich. Wer auf der Liste der Paramilitärs ist, kann fast sicher sein, dass er innerhalb einer Woche umgebracht wird.
Die Betancourts flüchten nach Villavicencio, in die Hauptstadt des Meta-Departments. Doch schon nach wenigen Tagen wird die Familie bedroht. Sie müssen weiter fliehen, bis nach Bogotá. Olgas Vater, Luis Felipe, verkraftet die Flucht nur schlecht. Er findet in der Stadt keine Arbeit, sehnt sich nach der Finca in El Castillo und stirbt nach sieben Jahren Exil in Ciudad Bolívar.
Mit der Ankunft in der Hauptstadt beginnt Olga, Kontakte zu knüpfen und sich bei Andescol, einem Vertriebenen-Verband, zu engagieren. Heute leitet sie den Verband.
Das politische Engagement hat ihren Wunsch, nach Hause zurückzukehren, stetig verstärkt. Ihr Ziel: Mit mindestens 1.500 ehemaligen Bewohnern zurück nach El Castillo gehen. Das Friedensabkommen vom 24. November zwischen FARC und Regierung ist ein wichtiger Schritt dahin. Das Abkommen sieht verschiedene Formen der Wiedergutmachung und Rückerstattung für die Vertriebenen vor. „Für diesen Tag wollen wir vorbereitet sein“, sagt Olga.
Doch dieses Engagement ist nicht ungefährlich. Die Paramilitärs sind noch immer aktiv in El Castillo. Und sie haben kein Interesse, dass die alten Bewohner zurückkehren.
In den drei Wochen vor der Unterschrift des neuen Abkommens kam es zu sieben Morden an Menschenrechtsaktivisten. Seit Anfang des Jahres gibt es damit schon 70 politische Morde in Kolumbien. Eine Situation, die Olga Betancourt an die Verfolgung der UP-Mitglieder in ihrer Jugend erinnert. Doch der Wunsch, nach zu Hause zurückkehren zu können, ist stärker als die Angst.
Es ist ein Schicksal, das Olga mit vielen Vertriebenen gemein hat. Je länger die Abwesenheit dauert, desto stärker wird die Heimat verklärt. Und desto stärker wird der Wunsch, zurückzukehren. Ihren persönlichen Frieden wird Olga nur machen können, wenn sie endlich nach El Castillo zurückkehrt.