Zehntausende Mütter und Väter in Kolumbien sind auf der Suche nach ihren Kindern. 60.360 Menschen wurden von bewaffneten Gruppen entführt – und sind bis heute nie wieder aufgetaucht. Von Bastian Kaiser und Edinson Bolaños
Desaparecidos, die verschwundenen Kinder Kolumbiens. Verschleppt von Paramilitärs oder der FARC-Guerilla, vergewaltigt, gefoltert, getötet. Ihre Überreste wurden verscharrt, wo sie niemand finden konnte. Ihre Familien sollten leiden. Und das tun sie bis heute. Seit 13 Jahren sucht Paulina Mahecha vergeblich nach ihrer Tochter María Cristina. Vom Tag ihres Verschwindens an kämpft sie für die eine Sache: die Wahrheit.
Paulina Mahechas Tochter verschwand in Guaviare, entführt von Paramilitärs. San José, die Hauptstadt der Region im Süden Kolumbiens, hat – gemessen an ihrer Einwohnerzahl – eine der höchsten Vermisstenzahlen des Landes. In der Provinz sollen sich dutzende Massengräber befinden, in denen die Überreste tausender Kolumbianer liegen. Massakriert und getötet in 50 Jahren des Konflikts.
Kolumbien zählt 1003 Städte und Gemeinden – in 920 davon ist bislang mindestens ein Mensch zwangsverschwunden, das heißt, getötet und an einem unbekannten Ort zurückgelassen worden. In vielen Fällen haben Polizei, Militär und Justiz nicht eingegriffen. Auch in Guaviare, wo in den letzten 30 Jahren mehr als 3.800 Menschen verschleppt und nie wieder gefunden worden sind. Entführt auf der Straße, in der Bar oder im eigenen Zuhause. Überall ist es passiert.
In San José del Guaviare fällt das Feiern schwer, nachdem Regierung und FARC-Rebellen den Friedensvertrag unterzeichnet haben. Der Schmerz sitzt tief bei den Müttern, Vätern, Schwestern und Brüdern der tausenden Verschwundenen der Region.
Von 2000 bis 2008 übernahmen Paramilitärs die Kontrolle über große Teile des Departamentos, rechtsgerichtete Milizen, die ihren Kampf gegen die marxistische FARC-Guerilla mit Drogenhandel finanzierten. Sie hatten es auf die Koka-Felder und die Flüsse Guaviares abgesehen. Sie führen direkt ins Amazonasgebiet, das Kolumbien und Brasilien verbindet.
Paramilitärs töteten Fischer an den Ufern des Río Guaviare und des Río Inirida, ließen Bauern verschwinden, um auf ihrem Land Kokain für den Export herzustellen. Indigene und Landarbeiter wurden umgebracht und in Massengräbern verscharrt.
Zwischen 1985 und 2016 zählt das Centro Nacional de Memoria Histórica 60.630 Zwangsverschwundene in ganz Kolumbien – entführt von Guerillas, Paramilitärs, anderen bewaffneten Gruppen und Geheimdienstlern. Im Schnitt ist in den letzten 45 Jahren alle acht Stunden ein Kolumbianer verschwunden, der nie wieder gefunden wurde.
Die Angehörigen der Verschwundenen werden von der Defensoría del Pueblo, der staatlichen Menschenrechtsbehörde, unterstützt. Diese sieht mehrere Motive für die Praktik des Verschwindenlassens: Die Täter wollten ihre Opfer einerseits bestrafen und in der Gesellschaft Angst und Schrecken verbreiten, andererseits die Spuren vor der Justiz verbergen.
So gelang es vor allem den Paramilitärs, Menschen unter Druck zu setzen. Sie verbündeten sich mit lokalen Politikern – und zwangen die Bürger, sie zu wählen. Viele dieser politischen Vertreter sind mittlerweile für ihre Verbindungen verurteilt worden.
Seit die kolumbianische Regierung unter Alvaro Uribe 2008 den Friedensprozess eingeleitet hat, geht die Zahl der Verschwundenen zurück. Die Befehlshaber der Paramilitärs in Guaviare wurden zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Niemand von ihnen hat bislang die Vergehen der Gruppe zugegeben.
Trian de Jesús Zuniga, Menschenrechtsbeauftragter des Departamentos Guaviare